Draußen bei den Herden – mit Pferden
„Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und siehe, des HERRN Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des HERRN leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; […].“ (Lukas Evangelium, 2, 8-11)
Edwin Scharff scheint sich jährlich mit dem nahenden Weihnachtsfest auseinandergesetzt zu haben. Das Thema hat den Künstler über Jahre hinweg begleitet, es entstanden zahlreiche Zeichnungen und Skizzen, doch nicht nur zur Geburt Christi. Ebenso findet sich ein Bronze-Relief „Hirten von Bethlehem (Verkündigung an die Hirten)“ mit entsprechenden Entwürfen auf Papier in der Sammlung: Es zeigt die Hirten mit ihren Tieren auf dem Felde und stammt aus dem Jahr 1946.
In seiner Darstellung greift Edwin Scharff allerdings nicht auf das klassische Personen- bzw. Tierinventar zurück: Denn besteht die Herde nicht auch aus Schafen? Nach diesen sucht man hier vergebens. Stattdessen werden neben den drei Hirten – deren Attribut ein Hirtenstab ist – zwei Pferde gezeigt. Das Pferd nimmt in Scharffs Werken eine besondere Stellung ein. Vielfach hat er die Kraft, Schönheit und Anmut des Tieres in Plastiken und Zeichnungen zum Ausdruck gebracht, allein oder in Verbindung mit dem Menschen. Auch im Relief vervollständigen die Pferde die Komposition aus Männern und Tieren; sie verherrlichen mit ihrer edlen Erscheinung gleichsam das Geschehen, es entsteht eine harmonisch zusammengefügte Gruppe. Die Pferde stehen hinter den Hirten, eines grasend, das andere der Blickrichtung der Hirten folgend. Doch wohin schauen die drei Männer – die ganz in Scharffs Tradition unbekleidet und jugendlich sind –, wohin zeigt der linke Hirte mit seiner Hand? Würde der Titel der Arbeit keinen Hinweis geben, so wäre es kaum möglich, dies zu erahnen. Es fehlen nämlich nicht nur Schafe. Ebenso verzichtet Scharff auf den die Botschaft verkündenden Engel oder den Stern von Bethlehem.
Doch es war nicht von Beginn an so gedacht. In einer ersten Ideenskizze von 1936 stellt der Künstler sowohl die Schafe als auch den Stern dar. Zehn Jahre später, als der Künstler das Relief modelliert, entscheidet er sich dann für eine ausdruckssteigernde Verknappung der bekannten Szene.
Ein Fürchten der Hirten vor den Engeln des Herrn ist nicht zu erkennen. Eher ist es ein Staunen. Im Zentrum steht die Kundgabe der frohen Botschaft. Der Blick der Hirten richtet sich auf etwas, das sich außerhalb des Bildes und damit im Raum des Betrachters befindet. Indem dieser das überraschte Aufschauen der Männer erkennt und ihren Blicken folgt, ist er Teil der Geschichte. Er wird selbst zum Adressaten der Verkündigung in diesem ruhigen und idyllisch anmutenden Geschehen.
Kristina Baumann, M.A.