Kunstwerk des Monats Oktober

Ewald Mataré, Schreitende – Torso, 1926

Ewald Mataré, Schreitende – Torso, 1926, Holz (Esche), Höhe 28,5 cm, Städtische Sammlungen Neu-Ulm, VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Anmut und Dynamik zugleich vermittelt die Figur „Schreitende“, die seit 2009 im Bestand der Städtischen Sammlungen Neu-Ulm ist. Ewald Mataré, der Vorgänger von Edwin Scharff an der Düsseldorfer Akademie und späterer Lehrer von Joseph Beuys, hat sie 1926 geschaffen. 

Die auffallende Dynamik der Holzplastik entsteht vor allem durch die leichte Wölbung des Oberkörpers. Diese Bewegung ist dem Schrittmotiv entgegen gesetzt. Trotz der vereinfachten Form der Figur und die Reduzierung auf den Torso, lässt sie sich leicht als Frau identifizieren. Ihre Grazie entsteht auch durch Matarés zugespitzte Darstellung der weiblichen Reize: Die Hüften sind breit und ausladend, die Taille äußerst schmal, die Oberschenkel wohl geformt. Der Künstler zeigt die weibliche Physis nicht als Naturnachahmung. Vielmehr ist es Matarés Suche nach einer allgemeingültigen und aussagekräftigen Form, die ihn antreibt und sich durch sein gesamtes Werk zieht.

Der 1887 in Aachen geborene Ewald Mataré stößt immer wieder auf andere Künstler, besonders der französischen Avantgarde, die ihn beeinflussen. Fernand Léger oder Pablo Picasso gehören dazu. Auch ein Bezug zum französischen Bildhauer Aristide Maillol lässt sich erkennen. Sowohl Maillol als auch Mataré entwickeln für ihre Plastiken eine Formensprache, die ohne bloße Nachahmung der Natur auskommt. Eine glatte Oberfläche und eine geschlossene Silhouette sind kennzeichnend für die Werke. 
Neben Maillol gibt es sicherlich auch andere Anreger. So lässt sich Mataré bei seinen Torsi – und damit auch bei der „Schreitenden“ – von prähistorischen Idolen und ihren teils übertriebenen Körperformen inspirieren. 

Doch nicht nur Form und Stil lassen die kleine schreitende Figur so reizvoll erscheinen. Es ist ebenso die Wahl des Materials, die für die Werke Matarés aus den 1920er Jahren von besonderer Bedeutung ist. Seine Liebe zum Werkstoff Holz und dessen Beschaffung stellt ihn Mitte der 1920er allerdings vor Herausforderungen. Denn es fehlen ihm die finanziellen Mittel, Holz zu kaufen. Diese Not macht ihn erfinderisch. Als er sich im Sommer 1922 an der Nordsee aufhält, sammelt er Treibholz und ist fasziniert von manch bizarr geformten Stücken.
Das aufgelesene Holz wird zur Grundlage seiner bildhauerischen Arbeit, mit der er nun – 35-jährig – intensiv zu arbeiten beginnt. Es entstehen nicht nur Kopfformen, sondern vermehrt menschliche Figuren von archetypischer Ausdruckskraft, unten denen die Torsi auffällig oft vertreten sind.

Allerdings wird es nicht lange dauern, bis sich Mataré, der sich bis dahin vorrangig als Grafiker und Holzschnitzer versteht, auch in der Plastik seinen „Lieblingsmotiven“ widmet: Kühe, Schafe, Pferde, Katzen und andere Tiere werden sein Werk dominieren. Für seine stilisierten Tierplastiken ist Ewald Mataré bis heute bekannt und geschätzt. 

Kristina Baumann, M.A.