Renée Sintenis, Selbstbildnis, 1944/45
Die Lippen geschlossen, die Stirn zerfurcht, der Blick wirkt nach innen gerichtet – so stellt sich die Künstlerin Renée Sintenis 1944/45 dar. Mit ihr wollen wir unsere Reihe „Kunstwerk des Monats“ beginnen.
Damit knüpfen wir an unsere letzte Ausstellung vor der Umbau-Schließung an. Das Edwin Scharff Museum zeigte bis August 2016 den „Berliner Skulpturenfund. ‚Entartete Kunst‘ wiederentdeckt“. Die Schau thematisierte die Verfolgung und Verfemung vieler Künstlerinnen und Künstler während der Jahre des Nationalsozialismus. Darüber hinaus belegte sie exemplarisch die große Bandbreite des plastischen Schaffens in den Jahren der Weimarer Republik.
Ergänzend wird daher als erstes Kunstwerk des Monats eine Plastik vorgestellt, die von einer verfemten Künstlerin geschaffen und zudem als Sinnbild der Kriegsjahre gedeutet wurde. Renée Sintenis – geboren als Renée Alice Sintenis – lehrte als eine der wenigen Künstlerinnen ihrer Zeit bis 1934 an der Preußischen Akademie der Künste – dann wurde sie von den Nationalsozialisten zum Austritt gezwungen. Erst nach dem Krieg nahm die Künstlerin die Lehrtätigkeit wieder auf; 1955 schließlich als Professorin an der Akademie der Künste.
Ihr plastisches Selbstbildnis konnte 2002 für das Museum erworben werden.
Es ist das letzte von ihr überlieferte Selbstbildnis.
Bereits in den Jahren davor schafft die Bildhauerin nicht nur Porträtbüsten anderer, etwa des Schriftstellers und Nobelpreisträgers André Gide, sondern auch von sich selbst. Bekanntheit erlangt sie allerdings vor allem mit ihren Tierplastiken – besonders Jungtiere wählte sie als Vorbilder – und mit eindrucksvollen Darstellungen von Sportlern. Noch heute begegnet ihr nahezu jedermann immer wieder im Februar, wenn der „Goldene Bär“ der Berlinale, der Internationalen Filmfestspiele, vergeben wird. Er wurde von ihr geschaffen. Ihr künstlerischer Erfolg steigert sich in den 1920er Jahren; sie erhält Preise, etwa für die Bronze „Der Läufer von Nurmi“ (1926).
Mit ihrem eigenen Ich setzt sie sich vielfach auseinander, in Plastik, Zeichnungen und Radierungen. Ein Merkmal, das allen ihren Selbstbildnissen gemein ist: die Introvertiertheit, die dennoch einen energischen Ausdruck zulässt.
Zeigen ihre frühen Arbeiten noch weiche Formen mit sinnlichen Lippen, so zeigen spätere Werke nach und nach ein „herberes“ Ich der Künstlerin. Die Gesichtszüge ihrer Selbstbildnismaske aus dem Jahr 1944 spiegeln die Härte der letzten Kriegsjahre, die Stille und die Trauer der Künstlerin wider. Mit den Arbeiten an diesem Werk beginnt Sintenis im Sommer 1944. Es ist nicht leicht – so berichtet sie in Briefen – an Ton für ihre Arbeit zu gelangen. Daneben überträgt sich die unruhige politische Situation auch auf ihr Inneres: Es fällt ihr schwer, die für sie nötige Zugewandtheit und Stille zu finden. Dennoch gelingt der Künstlerin ein Werk von großer Aussagekraft: Es zeigt auf beeindruckende Weise eine reife Frau, die viel erlebt hat. Die Wangenpartie des schlanken Gesichtes wirkt eingefallen. Der Mund wird durch scharf gezeichnete Lippenränder betont, das Kinn streng modelliert. Ausdrucksstark sind ebenfalls die großen Augen, welche die Künstlerin mit gesenkten Lidern gestaltet hat. Neben der faltigen Augenpartie sind es die tiefen, horizontalen Falten der Stirn, welche auf das Leiden während der Kriegsjahre hinweisen. Es ist ein Leiden bedingt durch die gesellschaftliche Situation des Krieges. Auch der Tod ihres Mannes Emil Rudolf Weiß im Jahr 1942 wird seine Spuren hinterlassen haben. Dass das Porträt auch den Titel „Deutschland nach dem Kriege“ trägt, zeigt nur allzu deutlich die ins Allgemeine gehobene Wirkung des Werkes, das wie kein anderes die damalige Zeitstimmung trifft.
Kristina Baumann, M.A.
Wissenschaftliche Volontärin des Edwin Scharff Museums