Kunstwerk des Monats Februar

 Ernst Geitlinger, Auf dem Balkon I, 1965

Ernst Geitlinger (13. Februar1895 in Frankfurt/Main – 28. März 1972 in Seeshaupt)
Auf dem Balkon I
1965
Acryl auf Leinwand
162 x 114 cm
Edwin Scharff Museum Neu-Ulm

Februar ist der Monat von Ernst Geitlinger: Dessen Geburtstag jährt sich am 13. Februar dieses Jahr zum 122. Mal. Unser Museum zeigt das Werk dieses Vorreiters der Konkreten Malerei in Deutschland in einer eigenen ständigen Ausstellung. Denn seit den 1990er Jahren besitzt die Stadt Neu-Ulm einen wichtigen Teil des Nachlasses Ernst Geitlingers (1895 – 1972), der als progressiver Professor an der Münchner Akademie der Bildenden Künste die ungegenständliche Kunst im Nachkriegs-Deutschland beförderte. 

Auch nach der Wiedereröffnung des Museums wird seine Kunst in einer ständigen Ausstellung gewürdigt werden. Freilich kann jeweils nur eine kleine Auswahl des aus 100 Gemälden, 420 Gouachen und 100 Druckgrafiken bestehenden Nachlasses präsentiert werden. Von der Gegenständlichkeit zur Abstraktion – so ist die Sammlung überschrieben und schließt damit an den Titel der Klasse von Geitlinger an der Münchner Akademie an. Dieser kann auch über dem ausgewählten Kunstwerk des Monats stehen. 

Die Bildidee hinter „Auf dem Balkon I“ aus dem Jahr 1965 scheint die Transformation eines figürlichen Motivs zu einer abstrakten Form zu sein. Gegenständliches und Ungegenständliches, Figürliches und Nicht-Figürliches verschmelzen hier miteinander. Die Farbwahl ist auf rot, weiß und schwarz reduziert. 

Zwei vertikale Linien in der unteren Bildhälfte, die durch wellenförmig schwingende, schwarze Linien miteinander verbunden sind, erzeugen aufgrund ihrer spitz zulaufenden Anordnung perspektivische Räumlichkeit. Ihre Tiefenwirkung suggeriert, dass es sich hierbei um den im Titel genannten „Balkon“ handelt. 

Vor dieser räumlichen Markierung durchmisst eine schmale rotumrissene Form die gesamte Bildhöhe. Ihre Erscheinung zeichnet sich durch einen lebhaft geschwungenen Umriss aus. Betrachtet man diese Form als ein gegenständliches Objekt, so könnte es sich etwa um ein dekoratives Element – vielleicht eine Vase? – handeln, das mehrfach einschwingt, um sich dann wieder auszudehnen. 

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es sich hier um eine Figur, genauer eine Frau handelt, wie fließende Rundungen nahelegen, die als schmale Taille und wohlgeformte Büste gedeutet werden können. Dennoch ist diese Lesart nicht eindeutig. So könnte eine rote, weichgeschwungene Linie zum einen das Dekolleté der Dame andeuten, sie lässt sich aber auch als perspektivische Ausdehnung der großen Vasenform lesen und schließt zugleich den oberen Rand einer kleinen, spitz zulaufenden, weißen Amphora-ähnlichen Form ab. 

Je länger man das vermeintlich einfache Bild betrachtet, desto unsicherer wird die Deutung der Bildgegenstände: Die weiß durchbrochene rote Form verbindet sich mit dem Weiß des Hintergrunds und gibt damit sämtliche Dreidimensionalität zugunsten einer flächigen Wirkung auf. Die gebogenen, schwarzen Balkonstreben antworten mit ihrem eigenen Rhythmus auf die weichfließend Musikalität der roten Form. Wie bei vielen seiner Werke, die die zwischen figurativer und konkreter Bildsprache changieren, entspinnt sich ein Spiel von stetig sich wechselnden Formen und Bedeutungen – ein rot weiß schwarzes Vexierbild, das nur auf dem ersten Blick vermeintlich einfach daher kommt und sich doch spielerische Leichtigkeit bewahrt.

Kristina Baumann, M.A.
Wissenschaftliche Volontärin des Edwin Scharff Museums