Anne Carnein, Ohne Titel, 2015
Lebewesen, deren Wurzeln nach Wasser suchen und im Verborgenen Wachstum vorantreiben – im Jahr 2016 erwarb das Edwin Scharff Museum ein Objekt der Künstlerin Anne Carnein, das ein Pilzgewächs zeigt. Die Neuerwerbung ist Teil der stetig wachsenden Kleinskulpturensammlung, die nicht nur Werke der klassischen Moderne einbezieht, sondern auch immer wieder den Blick auf zeitgenössische Kunst richtet.
Aus Garn, Draht und Stoff schafft Anne Carnein das vorgestellte Pflanzen-Objekt, dessen Naturnähe beeindruckt:: es zeigt die drei hutförmigen Fruchtkörper an der Oberfläche, die jedoch nur einen kleinen Teil des gesamten Organismus ausmachen und der Vermehrung und dem Überdauern dienen, und dazu das im Erdreich verborgene Raum greifende Wurzelgeflecht. Dieses Stoffgebilde zählt zu einer Gruppe mehrerer Werke, die pflanzliche Formen aus der Natur aufgreifen. Es sind kleinformatige Skulpturen, die etwa Kräuter, Gräser oder eben Pilze darstellen.
Oftmals recycelt Carnein dafür bereits getragene Kleidungsstücke, deren Gebrauchsspuren auch bei kleinen Arbeiten stets erkennbar sind. Zudem weisen Stiche der feinen Handarbeit auf den Entstehungsprozess hin. Neben diesem filigranen Kunsthandwerk sind es Spuren von Verschleiß, die charakteristisch für Carneins künstlerische Sprache sind. Die gebürtig aus Rostock stammende Künstlerin, die an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Karlsruhe studiert hat, lebt und arbeitet zurzeit in Kißlegg im Allgäu. Dort schafft sie eine Art „Pflanzenkunst“, welche die Illusion von „Echtheit“ und Naturnähe impliziert, deren künstliche Beschaffenheit dennoch bei näherer Betrachtung offensichtlich wird.
Gestaltet in den Erdtönen braun, beige und grün, scheint der hier dargestellte Pilz zunächst ein unauffälliges Lebewesen zu sein. Carnein interessiert jedoch nicht nur die äußere Beschaffenheit, sondern auch die ökologische Bedeutung des Gewächses: Fälschlicherweise wurden Pilzgewächse lange der Pflanzenwelt zugeordnet, tatsächlich bilden sie jedoch als Lebewesen ein eigenes von Pflanzen und Tieren abzugrenzendes Reich Sie zersetzen organische Materialien, unterstützen lebende Pflanzen oder zerstören diese als Parasiten.
Neben dieser biologischen Klassifikation überliefert Anne Carnein mit ihrem Werk einen Mikrokosmos, der zu einem bewussteren Umgang mit der Natur aufzurufen vermag. Carneins Objekt offeriert, so unscheinbar es auch wirken mag, viele Interpretationsebenen. Ihr ist es wichtig, nicht nur der Natur nachzueifern, sondern auch das künstlich Geschaffene zu zeigen. So kann ihr Pilz-Objekt als Symbol gesehen werden: zum einen für das Ein- und Austreten aus dem Erdreich, zum anderen für die Dynamik, Vernetzung und Symbiose einzelner Lebewesen untereinander. Dabei stehen nicht nur das Wachstum und das Streben danach im Vordergrund. Egal ob Pflanze, Tier oder Mensch: Auch das Vergängliche scheint eine Rolle zu spielen. Diesem vielschichtigen Bezug zwischen Natur und Mensch, Äußerem und Innerem, Offenem und Verborgenem spürt Anne Carnein in aller Metaphorik und Abbildhaftigkeit in ihren Stoffgebilden nach.
Kristina Baumann, M.A.
Wissenschaftliche Volontärin des Edwin Scharff Museums