Kunstwerk des Monats März

Edwin Scharff, Porträt Heinrich Wölfflin, 1923

Edwin Scharff
Porträt Heinrich Wölfflin
1923
Feder und Tuschpinsel auf Büttenpapier
45 x 30 cm
Nachlassgemeinschaft Scharff Neu-Ulm
Heinrich Wölfflin an Prof. Dr. Bruno Paul
3. Mai 1933
Städtische Sammlungen Neu-Ulm

„Kraft und Größe“

Nachdem letzten Monat ein Werk von Ernst Geitlinger anlässlich seines Geburtstages genauer Betrachtung unterzogen wurde, steht im Monat März – ebenfalls in seinem Geburtsmonat – Edwin Scharff im Fokus. Am 21. März wäre der 1887 geborene 130 Jahre alt geworden.

Ende vergangenen Jahres konnte ein Brief des Schweizer Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin vom 3. Mai 1933 für die Städtischen Sammlungen Neu-Ulm erworben werden. Darin macht sich Wölfflin, als direkte Reaktion auf die Zwangsbeurlaubung von Edwin Scharff aus dem Lehrdienst der Vereinigten Staatschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin, für einen Verbleib Scharffs an der Schule stark. Er bittet den Direktor der Staatsschule Professor Bruno Paul, sich für den Künstler im Ministerium einzusetzen.

Zürich, 3. Mai 33

Herr Prof. Bruno Paul, Berlin.

Hochgeschätzter Herr Professor, mit Bestürzung vernahm ich, dass dem Bildhauer Scharff die Funktion als Lehrer an den staatlichen Schulen entzogen werden soll. Für dessen Betätigung als Künstler wird ein solches Ungemach ja weiter keine nachteiligen Folgen haben, aber die Schule verliere viel:

Nach dem Eindruck, den ich vor 10 Jahren bei einigen Portraitsitzungen empfing, stelle ich mir die unmittelbare Wirkung seiner Persönlichkeit aber höchst belebend vor und die Anzahl der Künstler, die an Kraft und Größe der Auffassung gleich kämen, dürfte zur Zeit eine sehr beschränkte sein. Ist die Entlassung wirklich unwiderruflich? Auch wenn Sie im Ministerium zu seinen Gunsten vorstellig würden? Von einer direkten Eingabe an den Herrn […] Kanzler möchte ich […] Abstand nehmen.

Ihr ergeben […]

H. Wölfflin

Wölfflin reagierte mit diesem Brief auf das nur einen Monat vorher vom preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung ausgesprochene Arbeitsverbot – der Beginn der nationalsozialistischen Aktionen gegen Scharff, die bereits ein Jahr zuvor mit einer Verleumdungskampagne begannen. Wege suchend, dem Fokus der Nationalsozialisten zu entrinnen, trat er der NSDAP bei – ein verzweifelter Schritt seine Frau Helene Ritscher zu schützen, die als Jüdin ungarischer Herkunft von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten bedroht war. Dem Verbot folgte nur kurze Zeit später die Zwangsversetzung an die Staatliche Kunstakademie in Düsseldorf. 1937 wurden 48 seiner Kunstwerke als „entartet“ konfisziert – drei von ihnen wurden in der NS-Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt. Es folgte die Aufforderung, das Lehramt niederzulegen, der Ausschluss aus der NSDAP und das absolute Arbeitsverbot.

In dieser existentiell bedrohlichen Phase in Scharffs Leben und Schaffen, bricht Heinrich Wölfflin bereits 1933 eine Lanze für ihn und betont den Verlust, der der Schule mit der Entlassung Scharffs droht. Der Einsatz des renommierten Kunsthistorikers, dessen Grundlagentexte die moderne Kunstwissenschaft maßgeblich beeinflussten, zeigt, dass Edwin Scharff ein festes und hoch angesehenes Mitglied der Kunstszene war.

Zehn Jahre zuvor, 1923, beide Persönlichkeiten in München ansässig und etabliert, fertigte Scharff eine Porträtbüste von Heinrich Wölfflin an. Aus dieser Begegnung heraus berichtet der Kunsthistoriker in seinem Schreiben an Professor Paul und konstatiert, dass die Schule „sehr viel verliere“, wenn sie auf einen Künstler verzichte, dessen „Kraft und Größe“ für den Lehrbetrieb „höchst belebend“ sei. 

Im Bestand der Nachlassgemeinschaft im Edwin Scharff Museum befinden sich fünf Vorzeichnungen und das Gipsmodell der Büste. Sowohl die Zeichnungen, als auch das Bildnis selbst geben Zeugnis von Wölfflins so hingebungsvoller Einschätzung:  Mit kräftigen, schnellen Strichen, die sich von der Außenkontur zur Gesichtsmitte hin verdichten, erfasst Scharff den hochkonzentrierten Blick und die charakteristische Mundpartie. Der markanten Stirn gibt er Raum und strukturiert sie nur wenig. Anzug und hochgeschlossener Vatermörderkragen bleiben nur Andeutung, bilden aber die Basis für den Aufbau des ausdrucksstarken Porträts.

In der ausgeführten Plastik übersetzt er diese Linien in raumgreifende plastische Formen. Oberlippenbart, Nase und Augenbrauen springen dem Betrachter förmlich entgegen. Die hochkonzentriert blickenden Augen sind zu tief eingeschnittenen Schlitzen verengt. Im Aufbau behält er Anzug und hohen Kragen bei. Er verschmälert jedoch den Ausschnitt und betont damit die Vertikalität der Plastik und den asketisch verinnerlichten Habitus des Dargestellten. 

Scharffs Auffassungsgabe der Persönlichkeit eines Menschen war weithin bekannt. Weiche, lebendige Formen und tektonischer Aufbau verschmelzen in seinen Porträts zu lebendig atmender Ähnlichkeit und Persönlichkeit des Dargestellten. Künstlerkollegen wie Max Liebermann, Emil Nolde, Lovis Corinth und Heinrich Mann standen ihm Modell. 

Dr. Larissa Ramscheid
Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Edwin Scharff Museums