Kunstwerk des Monats Mai

Karl Schmidt-Rottluff, 9 Holzschnitte, 1918

Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976), ist euch nicht Kristus erschienen, 1918, Van Gelder-Bütten, ca. 35 x 50 cm, Städtische Sammlungen Neu-Ulm, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2017

„(…) zu noch stärkeren Formen greifen (…)“

Im Mai steht eine prominente Arbeit des Künstlers Karl Schmidt-Rottluff aus dem grafischen Bestand des Museums im Fokus: Der „Kristus“-Zyklus, eine Mappe mit neun Holzschnitten, die das Edwin Scharff Museum im November 2015 mit Hilfe der Werner Schneider Kunststiftung erwerben konnte. Das Besondere: In Auktionen werden zumeist nur Einzelblätter des Zyklus‘ versteigert; eine vollständige Mappe wird äußerst selten angeboten.  

Die Mappe ist Ausdruck der Auseinandersetzung Karl Schmidt-Rottluffs mit seinen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg. Künstlerinnen und Künstler suchten vielfach Wege, um mit den Schrecken des Krieges umzugehen. Auch Karl Schmidt-Rottluff – Gründungsmitglied der Künstlergruppe „Brücke“ – kehrte erschüttert aus dem Einsatz zurück, erschüttert auch in seinen Idealen. Im Gegensatz zu vielen jungen Künstlern seiner Generation teilte er von Anfang an nicht den Patriotismus und die Begeisterung, die viele zu den Waffen eilen ließ. Seine Einberufung zum Militärdienst im Mai 1915 bedeutete nicht nur eine einschneidende Zäsur in seinem künstlerischen Schaffen als Grafiker, Maler und Bildhauer. Sie stellte ihn auch vor die Aufgabe, einen adäquaten künstlerischen Ausdruck für seine Erlebnisse als Soldat zu finden. 

„Ich habe jetzt sehr den Druck, noch möglichst Starkes zu schaffen – der Krieg hat mir richtig alles Vergangene weggefegt -, […]. […] und doch merke ich elementar, daß man zu noch stärkeren Formen greifen muß, so stark, daß sie der Wucht eines solchen Völkerwahnsinns standhalten“, so Karl Schmidt-Rottluff in einem Brief, der auf 1914 datiert wird.

Die „stärkeren Formen“, von denen Schmidt-Rottluff spricht, finden sich insbesondere in seinem neunteiligen Holzschnitt-Zyklus, den er noch an der Front entwirft. Der „Kristus“-Zyklus – auch als „Christusmappe“ bekannt geworden – erscheint 1918 im Kurt Wolff-Verlag in einer Auflage von 75 Exemplaren. Es gilt als grafisches Hauptwerk des Expressionismus. Im Werk des Künstlers ragt der Zyklus nicht nur durch seine künstlerische Wucht und seine Intensität des Ausdrucks hervor. Es nimmt auch deshalb einen besonderen Stellenwert ein, da sich Schmidt-Rottluff danach nie wieder so explizit politisch geäußert und zu seiner persönlichen „geistigen Verfassung“ – geprägt von den Erlebnissen als Soldat – Stellung bezogen hat.

„Ist euch nicht Kristus erschienen“ ist das zentrale Blatt des Zyklus. Es schwankt zwischen eindringlicher Frage und Anklage. Zum einen stellt der Künstler hier das Gesicht Jesu dar, zum anderen ist das Blatt in seiner formalen Gestaltung auch als Christus am Kreuz zu lesen – mit der Jahreszahl 1918 auf der Stirn.

Die Wimpern in dem maskenhaft wirkenden Gesicht erscheinen wie Stacheldraht, die Strahlen des Nimbus füllen das restliche Blatt aus. Mit dem rechten weitaufgerissenen Auge ist Christus als Sehender dargestellt, das linke ist wie im Schmerz geschlossen. Christus erscheint nicht in der sanften Gestalt – etwa bekannt von Andachtsbildern dieser Zeit – sondern fordert in seiner Präsenz und direkten Ansprache die gesamte Aufmerksamkeit ein. 

„Ist euch nicht Kristus erschienen“ – damit richtet Schmidt-Rottluff einen Appell an jeden und jede; jene anklagend, die sich bekriegen bzw. ihre Soldaten gegeneinander kämpfen lassen. So ist das Blatt eine eindeutige Stellungnahme des Künstlers für Frieden und Mitmenschlichkeit.

Karl Schmidt-Rottluff (1884-1976), 9 Holzschnitte, Titelblatt, 1918, Van Gelder-Bütten, ca. 35 x 50 cm, Städtische Sammlungen Neu-Ulm, ©VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Das erste Blatt der Mappe listet die einzelnen Blätter auf und bereits hier wird deutlich: Schmidt-Rottluff wählt sehr individuell aus. Er greift menschliche Grundwerte, Erfahrungen und Gefühle auf, wie die Liebe („Kuss in Liebe“), den Verrat („Kristus und Judas“) oder das Nicht-Erkennen des göttlichen Sohnes („Gang nach Emmaus“). Die Mappe schließt mit dem Blatt „Jünger“, möglicherweise ein Selbstbildnis Schmidt-Rottluffs. 

Thematisch greift der Künstler auch relativ ungewöhnliche, biblische Themen auf, wie „Kristus flucht dem Feigenbaum“. Zusammen mit dem Blatt „Kristus und Judas“, das den verratenden Kuss Judas‘ zeigt, wählt Schmidt-Rottluff damit zwei Themen, die den Glauben infrage stellen. Hingegen verweisen das Eingangsblatt „Kuss in Liebe“ und „Kristus und die Ehebrecherin“ auf den Glauben an Liebe, Zusammenhalt und Vergebung. Daher vermittelt der Zyklus sowohl die Hoffnung auf ein menschliches Miteinander, eine pazifistische Einstellung, als auch die Resignation bedingt durch die Zeit seiner Entstehung. 

Entstanden unter den Eindrücken des Ersten Weltkrieges, dem gesellschaftlichen Umbruch und einem Neubeginn in Deutschland, hat dieses markante Werk des deutschen Expressionismus bis heute nichts an seiner eindrücklichen Kraft eingebüßt. Es bereichert daher umso mehr die grafische Sammlung des Edwin Scharff Museums. 

Kristina Baumann, M.A.
Wissenschaftliche Volontärin des Edwin Scharff Museums